Zwischen Halbwahrheiten und Projektionen: Die Migrantifa Wien und der jüdische Staat

Ein zentrales Element des Antisemitismus ist die Projektion. Die den Jüdinnen*Juden unterstellten Eigenschaften erweisen sich bei genauem Hinsehen als Eigenschaften oder Wünsche der Antisemit*innen selbst. Sie werden negativ gewendet und auf Jüdinnen*Juden projiziert. Weil der moderne Antisemitismus nach Auschwitz genötigt ist, als Antizionismus aufzutreten, gilt Israel, dem “Juden unten den Staaten”, die gewohnte Projektion. Israel ist die ideale Leinwand bürgerlicher und linksalternativer Albträume, gerade in Deutschland und Österreich. Was man selber will, wozu man aber einstweilen als unfähig sich erweist, das wird Israel als Vorsatz und Tat unterstellt.

In völliger Verkehrung der historischen wie aktuellen Faktenlage wird das Statement der „Migrantifa Wien“ so zu einer Anklageschrift gegen den jüdischen Staat. Die umliegenden Staaten in der Region werden dabei ebenso aus der Kritik ausgenommen, wie es ihnen nicht um eine Kritik an Nationalstaatlichkeit an sich geht. Vielmehr werden Halbwahrheiten und Projektionen vorgetragen und Mithilfe eines wahlweise antiimperialistischen oder postkolonialen Weltbilds Israel als das Böse schlechthin dargestellt. Eine Auswahl an einigen Stellen quer durch den Text verdeutlicht dies.

 

 

„The emergence of the Israeli state as settler-colonial state and the state’s ongoing settler-colonial and eliminatory practices are the foundation and reason for the violent reality of Palestinians‘ (sic!) lives until today.“

 

In dem Gebiet des heutigen israelischen Staates lebten schon immer Jüdinnen*Juden. Die zionistischen Bewegungen entstanden aus der Geschichte antisemitischer Verfolgung heraus, weil weder die bürgerliche Gesellschaft noch die sozialistische (Welt-)Revolution ihnen zur Hilfe kam oder kommen konnte. Viele flohen vor Pogromen nach Palästina. Nach der Shoah, der industriellen Massenvernichtung des jüdischen Lebens in Europa durch die Nazis und ihre Hilfsvölker, waren die wenigen Überlebenden dort unerwünscht und auch nach der militärischen Niederschlagung des Nationalsozialismus waren sie weiterhin mit antisemitischer Gewalt konfrontiert. Wie schon zuvor konnten sie nirgendwo hin, die Fluchtwege für jüdische Menschen waren in die meisten Staaten versperrt. Sie wurden von den Alliierten als ‚Displaced Persons‘ in Lager eingesperrt, oftmals in dieselben (Konzentrations-)Lager der Nazis (natürlich unter anderen Lebensbedingungen). Die allermeisten europäischen Länder lehnten eine Rückkehr ihrer ehemaligen jüdischen Mitbürger*innen ab. Die britische Kolonialmacht bekämpfte die jüdische Einwanderung nach Palästina. Viele, die mit Schiffen über das Mittelmeer versuchten Palästina zu erreichen, wurden zu Illegalen erklärt, von der britischen Kolonialmacht interniert, abgeschoben und auf Lager in Zypern gesperrt. Einige Jüdinnen*Juden bewaffneten sich und bekämpften die britische Kolonialmacht, bis sie das britische Mandatsgebiet aufgrund der anhaltenden Kämpfe an die neu gegründeten Vereinten Nationen abtraten. Die Geschichte des jüdischen Staates ist also ein antikolonialer Befreiungskampf zur Selbstbehauptung jüdischer Menschen, die Jahrhunderte ohne jegliche Schutzmacht verfolgt wurden und die den Grauen der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager entkommen sind. Diese historischen Verbrechen, die direkt mit der Gründung des jüdischen Staates verwoben sind, bleiben im Text natürlich unerwähnt. Und das wohl nicht unabsichtlich. Dass die umliegenden arabischen Staaten (also die arabische Mehrheitsgesellschaft), den Teilungsplan der UN ablehnten und umgehend das neu gegründete Israel (das in etwa so groß ist wie Niederösterreich) mit ihren Armeen angriffen, weil sie keine jüdische Existenz, vor allem keine die sich auch noch Wehren kann, auf ihrem Land dulden wollten, zeigt den antisemitischen (und migrationsfeindlichen) Charakter des arabischen Nationalismus. Und es war vor allem der Großmufti von Jerusalem, der mit den Nazis kooperierte, eine eigene muslimische SS-Einheit gründete und antisemitische Propaganda über Berlin aus in den arabischen Raum ausstrahlte, der die arabischen Staaten unter Druck setzte Israel anzugreifen, weil er den Kampf gegen die Juden im Namen des Antizionismus weiterführen wollte.

 

Was die Staatsgründung Israels angeht, so wurde dort im Zeitraffer einer Generation sichtbar, worauf auch alle anderen Nationalstaaten gründen: Auf Gewalt, Homogenisierung und Vertreibung. Aber nur in Bezug auf Israel wird dem Juden unter den Staaten deshalb das Existenzrecht abgesprochen. Was Marx „ursprüngliche Akkumulation“ nannte, die (gewaltsame) Enteignung, Vertreibung und rechtliche Einhegung des ländlichen Eigentums, wird bei Israel zum bestialischen Landraub umgeschrieben. Was zum Ansatzpunkt einer allgemeinen Kritik an Staat und Nation werden könnte, wird zur antisemitischen Paranoia, da sich die Agitation ausschließlich am jüdischen Staat abarbeitet. Eine materialistische Staatskritik hätte nicht nur den besonderen historischen Hintergrund der israelischen Staatsgründung zu reflektieren, sondern will zeigen, dass alle Staaten „künstliche Gebilde“ sind, die sich mit der gewaltsamen Durchsetzung politischer Zentralität etablierten. Und die die ihnen unterworfenen Individuen durch Homogenisierung zum Staatsvolk zurichten und zum Material von Herrschaft verdinglichen mussten. Dass das israelische „Volk“ nicht positiv bestimmbar ist, sondern negativ als Kollektiv der Verfolgten sich zusammenfindet, dient den Antizionist*innen als Beweis für dessen Widernatürlichkeit. Der Antizionismus ist das Gegenteil einer emanzipatorischen Staats- und Gesellschaftskritik.

 

Apropos Landraub und Gewalt: Nach der Gründung des jüdischen Staates kamen über 900.000 vertriebene jüdische Flüchtlinge aus vielen arabischen Länder nach Israel. 30 Prozent der Einwohner*innen Bagdads waren beispielsweise noch Ende der 1930er Jahre Juden*Jüdinnen. 50.000 Juden*Jüdinnen wurden aus dem Jemen Ende der 1940er Jahre gerettet – die letzten erst 2016, nach zahlreichen antisemitischen Anschläge der al-Qaida. 20.000 Juden*Jüdinnen wurden aus Äthiopien in den 1980er und 1990er Jahre vor antisemitischer Gewalt gerettet – erst 2013 die letzten 8000. Hier in Bezug auf Israel von Kolonialismus zu sprechen ist absurd und gerade deswegen muss diese Geschichte in den aktuellen Diskursen ausgeblendet werden. Doch auch abseits davon fehlt es an zentralen Merkmalen des Kolonialismus: So waren es Fluchtbewegungen von Menschen, die kein „koloniales“ Mutterland hatten, sondern im Gegenteil in diesen Ländern verfolgt wurden. Der Vorwurf des Kolonialismus dient alleine dazu, Israel zu Dämonisieren und soll dessen Auslöschung legitimieren.

 

 

„Das, was gerade passiert, ist ein Genozid. In den aktuellen Angriffen der israelischen Regierung übersteigert sich die Gewalt in der absoluten Vernichtung des palästinensischen Volkes.“

 

Die Präsenz und die Geschichte des jüdischen Staates im Nahen Osten zeigt sehr eindrücklich, was Minderheiten blüht, wenn sie ihre gesellschaftliche Stellung als Dhimmi, als entrechtete, unterdrückte und ausgeschlossene Klasse verlassen, um sich selbst zu behaupten und zu verteidigen. Der arabische Nationalismus und der Islamismus als reaktionäre religiös-faschistoide Ideologie, duldet keine Minderheiten auf dem von ihnen beanspruchten Herrschaftsgebiet. Und so kam es immer wieder zu Pogromen und Genoziden gegen Minderheiten im Nahen Osten – ob die antisemitischen Pogrome weit vor der Gründung des jüdischen Staates, oder der Genozid an den Jesid*innen durch den IS, deren Überlebende gerade in Deutschland darum fürchten müssen, wieder zu ihren Mördern abgeschoben zu werden. Die Angriffe auf Rojava durch den türkischen Staat oder die seines Verbündeten Aserbaidschan gegen Armenier*innen, wo tatsächlich ganze Landstriche ethnisch gesäubert wurden, füllen weder die Kommentarspalten noch die Straßen mit Protestierenden, denn daraus lässt sich – polemisch gesagt – keine edgy Performance basteln, die sich im Kampf gegen übermächtige Unterdrücker wähnt.

 

Es ist das erklärte Ziel der Hamas, jüdisches Leben weltweit auszulöschen. Das schreiben sie selbst in ihrer Charta, die sich noch dazu auf die antisemitische Hetzschrift der „Protokolle der Weisen von Zion“ bezieht. Doch in gewohnt antisemitischer Manier wird in den meisten Statements eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Das antisemitische Pogrom vom 7. Oktober, das nochmal in aller Deutlichkeit zeigte, dass die Vernichtungsdrohungen der Hamas gegen jüdisches Leben blutiger ernst sind, findet ohnehin keine Erwähnung. Dazu kommt, dass die Hamas keinesfalls alleine dasteht: Ihr antisemitisches Vernichtungsprogramm wird finanziell und militärisch unterstützt durch das iranische Regime und dessen verbündete Milizen in Irak, Syrien, Jemen und Libanon. Obwohl diese selbsternannte „Achse des Widerstands“ ganz unverhohlen die Vernichtung und Auslöschung jeder jüdischen Existenz zu ihrem politischen Programm erhebt, spielt dieser Umstand in den diversen Statements keinerlei Rolle. In einer Umkehrung der Tatsachen ist es wieder Israel, der als blutrünstiger und übermächtiger Terrorstaat inszeniert wird, der schlicht durch seine Existenz und Konstitution einen permanenten Genozid an den Palästinenser*innen begehen würde. Egal welche Handlungen der jüdische Staat setzt, es dient den Antisemit*innen als Beweis für seine moralische Verkommenheit und Bösartigkeit. Dass die Führungsriege der Hamas im Luxus wohnt und Gaza mit Millionen an Dollar in eine Terrorbastion ausbaute, während die Bevölkerung im Elend gezwungen ist zu leben und als menschliches Schutzschild missbraucht wird, das interessiert die falschen Freunde der Palästinenser*innen wenig. Palästinensisches Leid wird nur dann thematisiert, solange sich daraus ein Vorwurf gegen Israel machen lässt. Das bedeutet eben nicht, die anhaltende Gewalt von Rechtsextremen im Westjordanland zu leugnen oder die militärischen Schläge Israels zu glorifizieren, die aktuell das Leben hunderter Zivilist*innen fordert.

 

 

„Die Internationale Staatengemeinschaft einzieht sich durch ihre vermeintliche Solidarität mit dem israelischen Staat […] von der Verantwortung für ihre eigene genozidalen Geschichte.“

 

Die Einsamkeit Israels zeigt sich auch auf internationaler Ebene. Entgegen der Behauptung, Israel erfahre in der Internationalen Staatengemeinschaft Solidarität, stellt sich die Realität ganz anders dar. Erst vor wenigen Tagen fällten 120 Staaten einen Beschluss gegen Israel in der UN, nur 14 stimmten dagegen. Es fehlte sogar an einer Zweidrittelmehrheit, um die Freilassung der Geiseln zu fordern, die noch immer von der Hamas in Gefangenschaft gehalten werden. Auch die Verurteilung der Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober fand keine Mehrheit. Doch das ist kein Einzelfall bei den Vereinten Nationen, denn auch dort geht es vor allem um die Dämonisierung des jüdischen Staates. So entfielen im Jahr 2022 insgesamt 15 Beschlüsse der UNO-Generalversammlung gegen den jüdischen Staat, 13 waren gegen andere Länder gerichtet. In Jahr zuvor lautete das Zahlenverhältnis 14 zu 5.

 

Ignoriert wurden in den Resolutionen auch die über 3000 Palästinenser*innen, die von Assads Streitkräften abgeschlachtet, verstümmelt und vertrieben wurden. Die Mehrheit der UN-Mitgliedsländer hat sichtlich kein Interesse daran, den Palästinenser*innen wirklich zu helfen oder Menschenrechte zu schützen. Das Ziel dieser rituellen, einseitigen Verurteilungen ist es, Israel zum Sündenbock zu machen. Seit dem Jahr 2015 hat die UN-Generalversammlung insgesamt 125 Resolutionen gegen Israel verabschiedet, während der Rest der Welt, darunter Autokratien, Despotien und Diktaturen, in diesem Zeitraum auf lediglich 55 Verurteilungen kommen. Das ist angesichts der weltpolitischen Lage schlichtweg absurd und sagt erheblich mehr über die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedsländer aus als über den jüdischen Staat. Für viele Länder dient der Fingerzeig auf Israel ihrem Machterhalt, unter anderem ein Grund, warum immer wieder Friedensverhandlungen zum Scheitern gebracht werden. Aber auch viele europäische Länder, darunter Deutschland und Österreich, beteiligen sich bei dieser einseitigen, rituellen Abstrafung des jüdischen Staates durch die Vereinten Nationen. Der jüdische Staat soll das Böse an sich verkörpern. Hier zeigt sich, dass der Antizionismus die geopolitische Reproduktion des Antisemitismus darstellt: Die Vereinten Nationen gegen Israel.

 

 

„Es ist beschämend und beängstigend, dass österreichische und deutsche Medien eindeutig Informationen über die Ereignisse in Palästina zurückhalten. Sie sind nicht nur korrupt, befangen, verzerrt, sondern setzen die systematische Dehumanisierung von Palästinenser*innen fort. […] Wir fordern eine Institution zur Überwachung der Medien […] und eine Sanktionierung von korrupten Medienunternehmen.“

 

Der Vorwurf, die Medien seien befangen, hat in Bezug auf den jüdischen Staat nicht nur den schalen Beigeschmack von antisemitischer Verschwörungstheorie, sondern bedient auch genau dieses Stereotyp, wonach die Juden die Medien zu ihren Gunsten kontrollieren. Und wie bei den Vereinten Nationen schon, ist es reine Projektion, dass „die Medien“, und seien es noch die „westlichen“, geschlossen hinter Israel stehen würden. Gerade in Anbetracht der Falschinformationen über ein zerbombtes Krankenhaus, das von allen Medien übernommen wurde und zu antisemitischen Pogromen in Tunesien und anderenorts führte, zeigt, wie zentral die mediale Berichterstattung auch von palästinensischer Seite versucht wird zu beeinflussen. Während den Angaben Israels und sogar den Schilderungen von Zeug*innen und Überlebenden der Massaker vom 7. Oktober in vielen als links sich verstehenden Kreisen keine Glaubwürdigkeit geschenkt wird, diese grausamen Pogrome sogar als Lügen abgetan werden, wird die Propaganda der Hamas teilweise eins zu eins übernommen und weitergetragen. Die Migrantifa geht in ihren Projektionen sogar soweit, gleich eine „Überwachung“ der „befangenen und korrupten“ Medien zu fordern. Dass kein anderer Konflikt dieser Welt so viel Aufmerksamkeit bekommt und weltweit zu antiisraelischen Massendemonstrationen (und pogromartigen Zuständen wie in Russland) führt, ist in dieser Hinsicht ebenso erklärungsbedürftig wie widersprüchlich. Aber Antisemitismus ist wie jede Ideologie schon immer halbdurchschaute Lüge. Es ist immer auch eine Form der Realitätsabwehr, um die eigenen propagandistischen Absichten zu verstecken.

 

 

„Wir müssen uns gegen die rassistische Hetze und Aggressionen von Österreich, allen westlichen Staaten, der USA und Israel positionieren“. 

 

In der platten antiimperialistischen Logik wird die Welt in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse eingeteilt. Dieser Logik folgt auch das Statement der Migrantifa. Hier findet sich kein Wort vom iranischen Mörderregime, von Assad in Syrien, von der Hisbollah im Libanon oder der Situation im Irak. Der Feind ist klar: alle westlichen Staaten. Das man damit alle Menschen im Stich lässt, die gegen eben jene Diktaturen und Regime protestieren, also alle Frauen und Queers im Stich lässt, die weiterhin von der iranischen Sittenpolizei zu Tode geprügelt werden oder hinter Gefängnismauern verschwinden und auf die Vollstreckung ihrer Todesurteile warten, stört diese „antirassistischen“ Aktivist*innen scheinbar nicht. Ihnen geht es auch nicht um Solidarität mit emanzipatorischen Kämpfen, sondern um Ideologie:

 

Es ist schlichtweg eine Unverschämtheit, wenn Linke, die vor sich den Anspruch hertragen, emanzipatorisch und antifaschistisch zu sein, meinen, trotz Auschwitz und kritischer Theorie einfach so weiter machen zu können wie bisher. Angesichts eines zunehmend krisenhaften Kapitalismus im Weltmaßstab ist das Festhalten am „nationalen Befreiungskampf“ und plattem „Antiimperialismus“ schließlich mehr als fragwürdig. „Antiimperialismus“ und „nationaler Befreiungskampf“ waren Konzepte, die nur innerhalb einer bestimmten historischen Epoche als solche überhaupt hätten einen Zweck haben können. Doch ohne den „großen Bruder Sowjetunion“ und die „Perspektive“, dass ein Land nach dem anderen, wie auch immer „sozialistisch“ werden könnte, macht „Antiimperialismus“ sicherlich keinen Sinn. Schon empirisch lässt sich sehen, dass der emanzipatorische Gehalt der „nationalen Befreiungskämpfe“ seit Jahren abnimmt. „Antiimperialismus“ meint heute, wo es keine ernst zu nehmende progressive Bewegung gibt, die über den Kapitalismus hinaus will, meist nur noch die Agitation gegen die „Vormachtstellung von USA/Israel“ und wird auch – bei allen Unterschieden – von rot-grünen Think-Tanks bis zu den Taliban so verstanden. Wer diese politische Lage nicht zur Kenntnis nimmt und weiter einfach „Gegen den Imperialismus“ wettert, muss sich zu Recht vorwerfen lassen, vom Kapitalismus nicht reden zu wollen. Auch die Präsentation von Feindbildern zum Verständnis der komplexen Vorgänge der kapitalistischen Weltordnung hilft uns dabei nicht weiter. Denn, dass es im globalen Kapitalismus Sieger und Besiegte gibt ist die grausame Logik des Systems. „Unterdrückte“ werden – anders als in postkolonialen Diskursen meist dargestellt – allein durch Unterdrückung nicht gleich emanzipatorisch. Ja, auch die Menschen im Nahen Osten sind politische Subjekte und nicht bloße Reaktionskörper und die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse bringen eigene Nationalismen, Rassismen, Diskriminierungsformen und reaktionäre Ideologien hervor, die auch wiederum in die Gesellschaften Europas hineinwirken.

 

Dafür müsste man aber islamistische Bewegung als Bedrohung ernst nehmen und als Antifaschist*innen Solidarität mit jenen üben, die unter islamistischer Herrschaft leiden. Der vorherrschende Antiimperialismus und Antirassismus blendet konsequent genau diese Macht- und Herrschaftsstrukturen im Nahen Osten aus und diskreditiert sich somit selbst.

 

 

„Wir weigern uns linken Moralismus auf Palästinenser*innen und Jüdinnen und Juden zu projizieren. Diese Communities brauchen unsere Unterstützung und sichere Schutzräume.“

 

Die Forderung nach Schutzräume für die „jüdische Community“, die im Statement der Migrantifa Wien gleich zweimal erhoben wird, wirkt in Anbetracht der Hetze gegen den jüdischen Staat, den der Text sonst vorbringt, äußerst bizarr. Denn Israel ist als genau dieser Schutzraum errichtet worden und in diesem Schutzraum hat am 7. Oktober ein antisemitisches Pogrom gewütet, dass so viele Jüdinnen*Juden an einem Tag das Leben gekostet hat, wie seit der Shoah nicht mehr. Und anstatt sich mit eben diesem Schutzraum zu solidarisieren, der gerade massiv bedroht wird, wird von vielen eine Hetzte verbreitet, die diese Morde erst ermöglichten und die gerade zu einer neuen Welle antisemitischer Gewalt auf der ganzen Welt führt. Viele Jüdinnen*Juden fühlen sich gerade nirgendwo mehr sicher, wie schon so oft in der Geschichte der Verfolgung, aber es gibt jetzt einen Ort, wo sie hin flüchten können.

 

Durch die Shoah und die nationalsozialistische Verfolgung wurden alle Zentren jüdischen Lebens in Europa zerstört. Und nachdem 1948 mehr als 99 Prozent der jüdischen Bevölkerung der arabischen Staaten ins Exil gezwungen wurden, bildete Israel eines der wichtigsten Bezüge für jüdisches Leben. Auch für die meisten Jüdinnen*Juden, die nicht in Israel leben, ist der jüdische Staat das wichtigste Symbol und zentraler Bestandteil ihres jüdischen Selbstverständnisses. Israel ist die Verkörperung des Rechts von Jüdinnen*Juden auf Selbstbestimmung. Und gegen dieses Recht opponiert der Antizionismus nicht zufällig alleine nur gegen Jüdinnen*Juden, denen diese Selbstbestimmung seit jeher verweigert, verwehrt und abgesprochen wird. Man kann sich nur vorstellen wie es sein muss, wenn dieses Symbol jüdischer Selbstbestimmung global angegriffen und attackiert wird, wenn gegen den einzigen jüdischen Staat dermaßen Stimmung gemacht wird, dass es zu einer Explosion des Antisemitismus kommt, wenn sich die globale Linke mit den Mördern vom 7. Oktober als „Widerstandskämpfer“ solidarisiert. Wenn in Anbetracht der Weltlage, voller autoritärer Regime und Despoten, alleine Israel mit maßlos diffamierenden Vorwürfen konfrontiert wird, dann ist das als Angriff auf jüdisches Leben zu verstehen und wird von vielen Jüdinnen*Juden auch so verstanden.

 

 

Epilog:

 

Die Migrantifa Wien ist nicht die alleinige Stimme der migrantischen Antifaschist*innen, auch wenn sie damit versucht ihren Positionen etwas mehr Autorität zu verleihen. Viele Menschen wissen aufgrund ihrer Flucht- oder Familiengeschichte, dass sich die Situation im Nahen Osten ganz anders darstellt. Sie wissen was es heißt, dort als Minderheit um ihr Überleben zu kämpfen. Und dass man als Antifaschist*innen einen Kampf gegen Islamismus führen muss, nicht nur alleine um emanzipatorischen Ansprüchen gerecht zu werden, sondern in Solidarität mit allen, deren Leben durch diese reaktionären Bewegungen bedroht wird. Dazu zählen auch Palästinenser*innen. Viele wissen auch, dass Jüdinnen*Juden ähnliche Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung machen, weil sie nicht nur mit Antisemitismus konfrontiert sind, sondern selbst Migrationsgeschichte haben. Und sie wissen, dass sie die gleichen Feinde haben, dass es eine politische Entscheidung ist, den Kampf zwischen Rassismus und Antisemitismus zu trennen. Es ist aber genau die Migrantifa Wien, die durch antisemitische Agitation immer wieder diese Brüche erzeugt. In der Vergangenheit mussten Jüdinnen*Juden Kundgebungen der Migrantifa verlassen, weil sie die Hetze dort nicht ertragen konnten.

 

Es gibt keine einheitliche Sichtweise von Menschen mit Migrationsgeschichte auf politische Konflikte. Davon auszugehen wäre eine genauso identitäre und essentialistische Annahme wie zu behaupten, dass Erfahrung mit rassistischer Diskriminierung auch automatisch eine emanzipatorische Haltung hervorbringen würde.

 

Die Agitation gegen Israel ist aber eine politische Entscheidung, sie basiert auf Ideologie. Für das Ausleben antisemitischer Ressentiments werden die emanzipatorischen Kämpfe im Nahen Osten im Stich gelassen. Von Gesellschaftskritik, von einer Kritik an Staat und Nation, von Rassismus und Antisemitismus, haben sich diese Gruppen schon längst verabschiedet. Derzeit sind derartige Gruppen eher wenig an universeller Emanzipation orientiert, sie verlieren sich aktuell eher in der positiven Bezugnahme auf Kulturalismen und der Identifikation mit Essenzialismen, die die kapitalistischen Verhältnisse eindimensional verewigen, anstatt sie in all ihren Facetten zu kritisieren und damit auch zu überwinden.

 

Die „Migrantifa Wien“ kann weiter wie die Michaels, Nicoles und Wilhelms gegen Israel hetzen, die sich der nationalsozialistischen Geschichte mit dem Vorwurf des Schuldkults entledigen. Wer sich weigert, sich klar von der islamistischen Hamas zu distanzieren, kann auch gleich ein Bündnis mit türkischen Rechten, panarabischen Nationalist*innen und Islamist*innen eingehen. Ganz zu schweigen von der Meinung der österreichischen Mehrheitsgesellschaft zu Israel: Da gaben mehr als ein Drittel aller 2022 Befragten in Österreich an, die „Juden“ würden „Vorteile aus der Nazi-Vergangenheit ziehen“ und jetzt die „Palästinenser“ gleichbehandeln „wie damals die Nazis die Juden“. In dieser Hinsicht befindet sich die Migrantifa in Österreich in guter Gesellschaft und spricht das aus, was die österreichische Volksseele am Stammtisch raunt.

 

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Oktober 2023